„Die Wahlverwandtschaften“ – Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte (Goethe)
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Grundlagen zum Thema „Die Wahlverwandtschaften“ – Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte (Goethe)
Der Roman „Die Wahlverwandtschaften“ wurde in seiner Entstehungszeit als unmoralisch kritisiert und im 20. Jahrhundert für seine Kritik an bestimmten Normen der Gesellschaft gelobt. Der in diesem Video vorgestellte Interpretationsansatz zeigt dir die Hintergründe für die positive wie negative Kritik auf.
Transkript „Die Wahlverwandtschaften“ – Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte (Goethe)
Johann Wolfgang von Goethe, „Die Wahlverwandtschaften“ - Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte. 1809 erscheint Goethes „Die Wahlverwandtschaften“, ein Roman, der sich kritisch mit der Institution der Ehe auseinandersetzt. Dem Roman zufolge scheint es, dass diese unter Umständen gegen die eigentliche Natur des Menschen ist. Dieser Punkt wird von Kritikern der Zeit als unmoralisch verurteilt. Doch das sind nicht die einzigen kritischen Stimmen. Bis heute ist der Text immer wieder verschieden rezipiert und kritisiert worden. Was stand noch im Fokus der Diskussionen? Ein wichtiger Punkt ist die Struktur des Romans. Sie ist Ausgangspunkt für die meisten Interpretationen und spielt auch bei der Rezeption bis heute immer wieder eine wichtige Rolle. Gleichzeitig ist die Komplexität des Textes immer mit zu bedenken, wenn man über „Die Wahlverwandtschaften“ spricht. Setzen wir zuerst bei der Struktur an. Goethe überträgt ein chemisches Prinzip auf die Literatur. „Die Wahlverwandtschaften“ beschreibt, dass Verbindungen zwischen zwei Atomen sich lösen, wenn andere Atome hinzukommen und diese dann mit den ursprünglichen Atomen eine Bindung eingehen. Allein diese Übertragung von der Chemie auf die menschliche Natur hat Goethe bis heute Kritik eingebracht. Er suggeriert damit auf der einen Seite, dass es eben in der Natur des Menschen liege mit anderen Menschen zusammenzukommen. Damit nimmt er ihm die tatsächliche Wahl. Auf der anderen Seite würde das im Umkehrschluss bedeuten, dass er den Atomen an sich eine menschliche Wahl zuschreibt, was ebenfalls kritisch betrachtet werden kann. Die größte Kritik der Zeitgenossen bezog sich jedoch sehr stark auf das Bild des Ehebruchs. Der Roman wurde als unmoralisch eingestuft und erhielt keine überschwänglichen Kritiken. Das Dilemma der Kritiker war natürlich die Person Goethes selbst. Ihn zu kritisieren war 1809 sehr schwierig. 1808 wurde “Faust, der Tragödie erster Teil” veröffentlicht und untermauerte den ohnehin schon beinahe unantastbaren Ruf Goethes als großer Dichterfürst. Somit blieb der Roman, den Goethe selbst als sein bestes Werk bezeichnete, eher unbeachtet. Die Kritik an der Moral hielt sich die Waage mit der Hervorhebung der stilistischen Meisterschaft. In den darauffolgenden Jahrhunderten wurde der Roman verschieden interpretiert. Im neunzehnten Jahrhundert war „Die Wahlverwandtschaften“ der erste Roman in einer Reihe großer Eheromane. In der Folge standen zum Beispiel Fontanes Effi Briest, Flauberts Madame Bovary oder Tolstois Anna Karenina. Dieser Trend zeigt schon, dass sich die Rezeption im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts sehr verändert hat. „Die Wahlverwandtschaften“ wurde als wegweisender Roman gesehen. Sein Bild der Ehe, als genaue und präzise Beobachtung der Verhältnisse, bildete die Schwelle zur Romantik. Besonders Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts fand der Roman viele Fürsprecher, wie die Gebrüder Mann und den Philosophen Walter Benjamin. Das kunstvolle Erzählen und die großen Gedanken, die Goethe äußert, und sich somit im Grunde lange vor seiner Zeit gegen grundlegende Normen der Gesellschaft wendet, stehen hier im Mittelpunkt. Gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten stehen aber auch andere Themen im Fokus. So zum Beispiel die Geschlechteridentität der Protagonisten, die Zwänge ihrer gesellschaftlichen Rolle und die verbotenen Wünsche, die beide gleichermaßen haben und unterdrücken. Hier spielt da natürlich auch die Psychoanalyse eine Rolle, wenn es um das verdrängte, unbefriedigte Sehnen nach Freiheit, die natürlich auch den sexuellen Bereich mit einbezieht, geht. Allein anhand dieser Rezeptionsgeschichte werden die schon erwähnte Vielschichtigkeit des Textes und die Modernität der Themen und Motive deutlich. Interpretiert wurden diese immer im Spiegel der Zeit, seien es nun die Eheverhältnisse, das unterdrückte Sehnen oder die Unausweichlichkeit der Katastrophe am Ende. Goethe ließ sich beim Schreiben von einem einzigen Gedanken leiten, nämlich der Verbindung des naturwissenschaftlichen Phänomens mit dem Schicksal zweier Menschen. Goethe stellt dabei eine Opposition auf: die natürliche Ordnung und die moralischen Zwänge der Gesellschaft. Zwischen diesen Polen entsteht ein Kampf um die Vorherrschaft innerhalb des gesellschaftlichen Systems. Jede Figur vereint beide Pole in sich. Eduard steht hierbei ganz klar für die natürliche Ordnung. Er kann sich seinen Gefühlen zu Ottilie hingeben und erwartet eben dies auch von Charlotte. Diese jedoch ist zu sehr in ihren bürgerlichen Moralvorstellungen gefangen, denen sie nicht entkommen kann. Dieses Verhalten führt dazu, dass sie sich am Ende die Schuld am Tod des Kindes gibt. Damit sind in der ersten Beziehung die beiden Gegensätze vereint. Ottilie selbst ist zurückgekommen. Auch im Bürgerlichen verankert, gibt sie sich zuerst schnell der natürlichen Ordnung hin, später bereut sie dies und reagiert mit Selbstverzicht. Auch dieser Verzicht führt zur Katastrophe, ihrem eigenen Tod. Otto ist, ähnlich wie Eduard, ebenfalls im Grunde der natürlichen Ordnung verbunden, hat jedoch immer wieder Skrupel was das Auflösen der Ehe betrifft. Der Tod Ottilies und ihre Verehrung am Ende werfen in dieser Interpretation ein kritisch-ironisches Licht auf die Gesellschaft und den Katholizismus. Dieser dient hier dazu, die bestehenden Normen der Gesellschaft zu untermauern und zu festigen. Die Erhöhung Ottilies zur Heiligen ist ein zynischer Kommentar auf eine unkritische Gesellschaft. So harmlos Goethes Roman also auf den ersten Blick aussehen mag, so sehr hat er es auf den zweiten Blick in sich. Die Geschichte von Ehepaaren, die sich anderweitig verlieben, ist heute kaum noch anstößig und doch war sie zu Goethes Zeit im Grunde ein Verstoß gegen die allgemeine Moral. Die Gesellschaftskritik mag heute altbacken anmuten. Doch zu Goethes Zeit war sie brandaktuell und im Grunde ihrer Zeit voraus.
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